Darf man Falsches lehren?

Eine wissenschaftsdidaktische Überlegung

G. Vollmer

Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Universität,
D-6300 Gießen


Vollmer, G.

Darf man Falsches lehren? (aus: Naturwissenschaften 76, 185 - 193 (1989))

Dass jemand bewusst Falsches lehrt, scheint sowohl die Ethik der Wissenschaft als auch die Pflichten des verantwortungsvollen Erziehers zu verletzen. Gleichwohl lehren wir regelmäßig Falsches, etwa Galileis Fallgesetze oder überhaupt klassische Mechanik. Und unter genau angebbaren Bedingungen dürfen wir das auch. Insbesondere muss die als falsch erkannte Theorie in anderen Hinsichten ausreichend brauchbar sein.


Eine Gewissensfrage?

Die Frage, ob man auch Falsches lehren dürfe, wird zunächst und spontan ein entschiedenes Nein hervor­rufen. Es schiene sowohl der Wahrheitssuche der Wis­senschaft als auch dem pädagogischen Auftrag des Lehrenden zu widersprechen. Allerdings werden auch sofort einige Bedenken und Einwände auftauchen, Einwände freilich, die eher den Sinn und die Berechti­gung der Frage als die verneinende Antwort betreffen. Sie sollten deshalb vorweg bedacht werden.

Erstens wissen wir, dass wir - auch als Lehrer - nicht gegen Irrtum gefeit sind. Da wir fehlbar sind und da unser Wissen immer vorläufig bleibt, kann im Prinzip jedes Element unseres Lehrstoffs auch falsch sein. Wer Wissen vermittelt, der läuft damit auch Gefahr, Irrtümer weiterzugeben. Und wer, um dieses Risiko zu vermeiden, nur als sicher Erkanntes lehren wollte, der dürfte überhaupt nichts mehr lehren. Das Verbot oder die Weigerung, Falsches zu lehren, kann sich also nur auf bekannt Falsches beziehen. Und die Frage lautet eben genauer: Darf man bewusst Falsches lehren? Darf man etwas lehren, von dem man bereits weiß, dass es falsch ist? Die spontane Antwort auf diese präzisierte Frage wird dann allerdings ein ebenso entschiedenes Nein sein.

Zweitens könnte man kritisch nachfragen, ob man denn wissen könne, dass eine Hypothese, eine Theorie oder ein Verfahren falsch ist. Wenn all unser Wissen fehlbar ist, wie kritische Rationalisten und hypotheti­sche Realisten behaupten, ist dann nicht auch unser Wissen um das Falsche und um die Fehlbarkeit unseres Wissens fehlbar? Wenn wir nichts sicher wissen, dann doch auch nicht, dass etwas falsch ist. Kommen wir dann überhaupt jemals in die Verlegenheit, gewusst Falsches zu lehren?

Die Einsicht in die Fehlbarkeit unseres Wissens bedeutet nicht, dass wir nichts wissen und nichts wissen können. Sie zeigt nur, dass wir Sicherheit nicht als Merkmal eines angemessenen Wissensbegriffs ansehen sollten. Fordert man nämlich, dass Wissen sicher sein müsse (so dass „sicheres Wissen“ ein Pleonasmus, „fehlbares“ oder „Vermutungswissen“ dagegen ein Selbstwiderspruch wäre), dann schließt die These von der Fehlbarkeit menschlichen Wissens ein, dass wir überhaupt nichts wissen, und dies würde unserer Intuition doch allzu sehr widersprechen. Nicht einmal in der Wissenschaft gäbe es dann Wissen; wenn aber hier nicht, wo sonst?

Akzeptieren wir jedoch einen Wissensbegriff, der Fehlbarkeit zulässt, dann können wir uns natürlich nicht nur darüber irren, was wahr, sondern auch darüber, was falsch ist. Und wir können dann auch wissen, dass etwas falsch ist, ohne dessen auch sicher sein zu müssen. In diesem Sinne also stellen wir die Frage, ob man etwas lehren - und damit als wahr hinstellen - darf, von dem man weiß, besser: zu wissen glaubt oder vermutet, dass es falsch ist. Und auch in diesem noch einmal präzisierten Sinne wird man die Frage wieder mit einem spontanen Nein beantworten. Schie­ne es doch das wissenschaftliche Ethos zu verletzen, wenn man „wider besseres Wissen“ Falsches lehren wollte.

Drittens könnte jemand sich vorsichtig oder auch hä­misch erkundigen, was mit „Wahr“ und „Wahrheit“ denn wohl gemeint sei, und die Antwort auf die zu-nächst gestellte Frage aussetzen, bis eine befriedigende Explikation des Wahrheitsbegriffs zur Verfügung steht. Man kann sogar vorgeben, gar nicht zu wissen, was eigentlich gefragt ist, solange eine solche Erläute­rung nicht gegeben wurde.

Nun ist es zwar leicht, für „Wahrheit“ irgendeine Defi­nition zu geben, sie zum Beispiel im Sinne der Korre­spondenztheorie als „Übereinstimmung mit der Wirk­lichkeit“ zu definieren; diese Definition wird aber nicht jeden befriedigen. Und es ist bekannt, dass eine allgemein anerkannte Wahrheitsdefinition bisher nicht existiert und vermutlich auch nie existieren wird.

In dieser Situation wird man nicht darauf bestehen, den Kritiker von der Angemessenheit der vorgeschla­genen Wahrheitsdefinition zu überzeugen, sondern sich damit begnügen, dass der Betreffende einen wenig­stens versteht. Die Frage, ob man Falsches lehren dür­fe, wird dadurch nicht sinnlos; sie wird aber - je nach Wahrheitsbegriff - verschiedene Deutungen und des­halb auch verschiedene Antworten zulassen. Und sind die Deutungen untereinander gleichwertig, so können auch ganz unterschiedliche Antworten ihre spezifische Berechtigung haben.

Im folgenden soll der Wahrheitsbegriff im Sinne der traditionellen Korrespondenztheorie verstanden und verwendet werden. Das Prädikat „wahr“ bezieht sich dabei ausschließlich auf Aussagen, also auf sprachli­che Gebilde, und beispielsweise nicht auf Dinge, Ei­genschaften oder Überzeugungen. Außerdem werden wir uns auf Aussagen über die Welt, also auf fakti­sche Hypothesen und Hypothesensysteme (Theorien) beschränken.

Nur nebenbei sei bemerkt, dass der viel zitierte Tarski­sche Wahrheitsbegriff' der die klassische Korrespon­denztheorie zugrundelegt und verfeinert, zunächst nur für formale Sprachen gilt, für die Explikation fakti­scher Wahrheit dagegen noch nicht ausreicht.

Außerdem sei daran erinnert, dass die korrespondenz-theoretische Wahrheits­definition nicht auch schon automatisch ausreichende Wahrheitskriterien liefert. Solche Kriterien wie Konsens, Konsistenz, Kohärenz oder Erfolg können leicht hinzugefügt werden; ange­sichts der Vorläufigkeit unseres Wissens sind dabei jedoch keine erfüllbaren hinreichenden Wahrheitskriterien zu erwarten. Wir können zwar beschreiben, wann wir eine Aussage im allgemeinen als wahr ansehen; wir können auch - dieser Beschreibung folgend oder von ihr abweichend - festlegen, wann wir sie als wahr akzeptieren sollten; und wir können beschließen, wann wir sie als wahr akzeptieren wollen. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, die Anerkennung einer Tatsachenbehauptung durch andere argumentativ zu erzwingen, keinen Königsweg zur Wahrheit. Die Wahrheit ist nicht nur häufig genug verborgen; auch einmal entdeckt, ist sie - entgegen Platon oder Descartes - nicht ohne weiteres oder gar zweifelsfrei als Wahrheit erkennbar [1].

Unsere Ausgangsfrage darf nun so interpretiert werden: Darf der Lehrende Aussagen als wahr hinstellen, von denen er weiß, dass sie mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, dass sie die Tatsachen nicht angemessen beschreiben? Auch hierauf wird die Antwort ein vielleicht nicht mehr so spontanes, aber doch wohl immer noch entschiedenes Nein sein. Ob und inwieweit dieses Nein berechtigt ist, soll dann Gegenstand der folgenden Betrachtungen sein.

Viertens könnte man - und damit soll die Liste der Bedenken zunächst einmal enden - erneut tiefer bohren und fragen, ob es Wahr und Falsch denn überhaupt gibt und ob es - bei der Fragwürdigkeit des Wahrheitsbegriffs - wirklich sinnvoll ist, von der Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen zu reden. Genügt es zum Beispiel nicht, wissenschaftliche Theorien als Instrumente, als Schlussfahrkarten, als Algorithmen zur Erstellung von Handlungsanweisungen zu betrachten? Sind die Begriffe ,wahr' und ,falsch' nicht entbehrlich, allenfalls eine Abkürzung für ,brauchbar', ,praktisch', ,ökonomisch', ,zielführend', ,erfolgsfördernd'?

Pragmatische Wahrheitstheorien („eine Aussage ist wahr genau dann, wenn ihre Anwendung erfolgreich ist“) und, darauf aufbauend, instrumentalistische Wissenschaftsauffassungen („Theorien sind nur Werkzeuge zur sparsamen Beschreibung vergangener und zur Voraussage zukünftiger Erfahrungen“) sind vielfach vertreten worden. Logisch oder erkenntnistheoretisch widerlegen kann man sie nicht. Gegenüber einer realistischen Wahrheits- und Wissenschafts­auffassung sind sie allerdings kritischen Einwänden ausgesetzt, die man nicht übersehen sollte.

Der wichtigste Einwand ist die wissenschaftsgeschichtliche, also letztlich empirische Tatsache, dass Theorien immer wieder scheitern. Warum und woran scheitern wissenschaftliche Theorien? Der Realist hat darauf eine einfache Antwort: Theorien scheitern, weil sie falsch sind; sie scheitern, weil die Wirklichkeit anders ist, als diese Theorien annehmen; sie scheitern also an der Realität. Pragmatist und Instrumentalist dagegen können die gestellte Frage gar nicht oder nur tautologisch beantworten:

Theorien scheitern, weil sie im Kampf mit anderen, ihnen widersprechenden Theorien nicht erfolgreich sind; sie scheitern also, weil sie scheitern. Der Realist kann somit etwas erklären, was der Instrumentalist nur achselzuckend hinnehmen kann. Falls also der Erklärungswert einer Theorie, in diesem Falle einer wissenschaftstheoretischen Auffassung, überhaupt als Beurteilungs­kriterium, als Qualitätsmerkmal anerkannt wird, dann schneidet der Realismus im Hinblick auf dieses Merkmal offenbar deutlich besser ab.

Ganz ähnlich kann der Realist erklären, warum sich Naturkonstanten einem bestimmten Wert anzunähern scheinen und warum unter verschiedenen konkurrierenden Theorien in der Regel eine den Sieg davonträgt (Konvergenz der Wissenschaft). Auch hier müssen Pragmatist und Instrumentalist passen.

Wen allerdings diese und andere Argumente nicht überzeugen, wer also an seiner pragmatischen oder instrumentalistischen Interpretation - dogmatisch, polemisch oder auch nur versuchsweise - festhalten möchte, der wird die Titelfrage nicht im ursprünglich gemeinten Sinne verstehen und deshalb auch nicht beantworten. Immerhin könnte er sie wenigstens in seine Sprache übersetzen, etwa folgendermaßen: Darf man eine Theorie lehren, von der man weiß oder erwartet, dass sie sich bei der Beschreibung vergangener, vielleicht auch bei der Prognose zukünftiger Erfahrungen als weniger erfolgreich erweist als eine andere, bereits bekannte Theorie?

Diese Frage kann natürlich auch der Realist stellen und zu beantworten versuchen. Für ihn, der ja Wahrheit und Brauchbarkeit bewusst unterscheidet, ist das jedoch eine ganz andere Frage als die ursprünglich gestellte, so dass die pragmatische Antwort, wie immer sie ausfallen mag, das Problem des Realisten nicht wirklich löst. Wer nämlich nur pragmatische Argumente gelten läßt, der wird unter Umständen zu einer anderen Antwort kommen als der Realist, der nach Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinne fragt. Die Übersetzbarkeit der Frage garantiert also noch nicht die Gleichheit der Antwort. Immerhin bietet diese Übersetzbarkeit auch dem Instrumentalisten die Möglichkeit, die nachfolgenden Überlegungen zu verstehen, dies selbst dann, wenn ihm nicht jedes Argument einleuchtet.


Galileis „Fall“

Die Gesetze des freien Falls nach Galilei gehören zu den elementarsten Physikkenntnissen und sind deshalb unverzichtbarer Bestandteil jedes Physikunterrichts. Sie stellen Zusammenhänge her zwischen Fallzeit, Fallweg, Geschwindigkeit und Beschleunigung eines frei fallenden Körpers. Bei geeigneter Wahl der Anfangsbedingungen - Anfangskoordinate s0 = 0 und Anfangsgeschwindigkeit v0 = ds0/dt = 0 - lauten diese Gesetze:



Beschleunigung

a(t) = d2s/dt2 = g = 9,8 m s-2,

(1)



Geschwindigkeit

v(t) = ds/dt = gt,

(2)



Fallweg

s(t) = ½gt2.

(3)



Dabei spielt es keine Rolle, dass die Fallgesetze bei Ga­lilei eine etwas andere Form haben, dass er zum Beispiel Geschwindigkeiten und Beschleunigungen noch nicht als Differentialquotienten auffassen und die konstante Fallbeschleunigung noch nicht als „Erdbe­schleunigung“ deuten kann. Entscheidend für unsere Überlegungen ist die Tatsache, dass nach Galilei die Fallbeschleunigung konstant ist und dass deshalb zwischen Fallweg und Fallzeit ein quadratischer Zusam­menhang besteht. Dies hat insbesondere zur Folge, dass ein schräg geworfener Körper, etwa eine Kano­nenkugel, eine parabelförmige Bahn beschreibt oder jedenfalls beschreiben würde, wenn es keinen Luftwi­derstand gäbe. Dass die Luftreibung die Bahn eines Körpers beeinflusst, die Fallgesetze also bereits eine Idealisierung darstellen, war natürlich auch Galilei be­kannt. Wir könnten seine Entdeckung also auch so formulieren: Wenn es keine Luftreibung gäbe, dann würde sich ein in der Nähe der Erdoberfläche geworfe­ner Körper auf einer Parabelbahn bewegen.

Ist diese Behauptung richtig?

Tatsächlich wird fast immer so getan, als ob diese Be­hauptung wahr wäre, als ob sie also die Flugbahn im Vakuum zutreffend beschriebe. Eventuell beobachtete Abweichungen von der Parabelbahn werden dann dem Luftwiderstand, notfalls noch Störungen des Schwerefeldes durch terrestrische Inhomogenitäten oder durch Sonne, Mond und Nachbarplaneten zugeschrieben. Würde sich aber ein Körper bei Absehen von allen bis­her genannten Störungen im Schwerefeld einer homo­genen oder wenigstens ideal kugelsymmetrischen Erde tatsächlich auf einer Parabelbahn bewegen?

Nein!

Eigentlich müsste sogar dem Nichtphysiker ein merk­würdiger Widerspruch auffallen. Mit Recht feiern wir Kepler als den Entdecker der Planetengesetze, insbe­sondere der Kepler-Ellipse. Danach bewegen sich alle Planeten auf elliptischen Bahnen um die Sonne. Sollte dann nicht auch die Bahn eines frei fallenden Körpers eher elliptisch als parabolisch sein?

Von Aristoteles bis Galilei wären elliptische Planetenbahnen mit parabelförmigen Fallwegen noch ohne weiteres vereinbar gewesen. 2000 Jahre lang nämlich hielt man an der grundsätzlichen Unterscheidung von sublunarer und supralunarer Sphäre fest. Danach durften auch Bewegungen unterhalb des Mondes anderen Gesetzen folgen als solche oberhalb oder jenseits der Mondbahn. Erst Kepler hat vermutet, und erst Newton hat gezeigt, dass diese Unterscheidung überflüssig ist, dass die Naturgesetze überall gelten und dass insbesondere die Massenanziehung universell ist. New­tons allgemeines Gravitationsgesetz und die Grundge­setze seiner Mechanik müssen deshalb sowohl für die Bewegungen der Planeten im Schwerefeld der Sonne als auch für fallende Steine im Schwerefeld der Erde gelten. Dies ist ja auch tatsächlich der Fall. Und da­nach müssen eben bei kugelförmigem Zentralkörper alle gebundenen Bewegungen elliptisch sein.

Ein Fallweg, der von einem massiven Körper weg- und zu ihm zurückführt, könnte nur dann parabolisch sein, wenn dieser Körper ein homogenes Gravitations­feld hätte, und dies wäre seinerseits nur dann möglich, wenn der Körper völlig eben, zugleich aber unendlich ausgedehnt und doch von endlicher Masse wäre. Diese Bedingungen erfüllt die Erde nicht; sie sind physika­lisch auch gar nicht gleichzeitig erfüllbar. Ein völlig homogenes Gravitationsfeld ist also nicht nur in der Umgebung der Erde nicht vorhanden, sondern in der Natur überhaupt nicht realisierbar. Selbst wenn wir also die vorgenannten Idealisierungen fehlenden Luftwiderstandes, homogener oder wenigstens kugelsymmetrischer Massenverteilung in der Erdkugel und ver­schwindenden Einflusses fremder Massen zugestehen wollten, kann doch keine Fall- oder Wurfbewegung, die von einem Körper weg- und wieder zu ihm zurückführt, auf parabolischer Bahn verlaufen.

Einem naheliegenden Einwand sollte vielleicht noch vorgebeugt werden. Da unter den Kepler-Bewegungen alle Kegelschnitte vorkommen, kann es - als Grenz­fall zwischen Hyperbel und Ellipse - natürlich auch parabelförmige Bahnen um einen kugelförmigen Zen­tralkörper geben. Eine solche Bewegung kann jedoch nie von der Oberfläche dieses Körpers ausgehen und wieder zu ihm zurückkehren. Jede derartige Bahnpa­rabel könnte den Körper allenfalls einmal, und zwar in ihrem Scheitelpunkt, berühren.

Die Galileischen Fallgesetze beschreiben also weder den tatsächlichen noch den idealisierten Fall oder Wurf richtig. Sie stimmen mit den Tatsachen nicht überein, sind also falsch.

Hier spielt es zunächst einmal keine Rolle, dass die Fallgesetze unter gewissen Umständen wenigstens näherungsweise stimmen. Was nur näherungsweise stimmt, das stimmt nicht ganz, und dann stimmt es eben nicht. In der üblichen zweiwertigen Logik ist eine Aussage entweder wahr oder falsch, und wenn sie nicht wahr ist, so ist sie eben falsch. Zwischen Wahr und Falsch gibt es dabei keinen Mittelweg und keinen Kompromiss. Und selbst wenn es gelänge, zwischen Wahr und Falsch eine ganze Skala von Wahrheitswerten einzuschieben, eine Art Wahrscheinlichkeitsmaß oder ein Maß für Wahrheitsnähe, das etwa von Null bis Eins reichte, so bliebe zwischen „fast wahr“ und „ganz wahr“ doch noch ein unleugbarer und unaufhebbarer Unterschied. Die Fallgesetze wären auch dann bestenfalls „fast wahr“. Außerdem kann, wie wir noch sehen werden, der Unterschied zwischen elliptischer und parabolischer Bahn selbst unter den genannten idealisierten Bedingungen noch recht groß werden, so dass die Fallgesetze dann nicht einmal mehr „fast wahr“ sind.


Auch Newton widerspricht Galilei

Nicht selten begegnet man der Behauptung, Galileis Fallgesetze ließen sich doch aus der Newtonschen Mechanik und Gravitationstheorie ableiten. Dies ist jedoch nicht richtig. Es wäre ja auch sehr überraschend, ja bedenklich, wenn ein und dieselbe Theorie trotz gleichen Sachverhalts - gebundene Bewegung im Schwerefeld eines kugelförmigen Zentralkörpers - zu ganz gegensätzlichen Folgerungen führen könnte. Und eine (Kepler-)Ellipse ist nun einmal keine (Galilei-)Parabel. Aus dem Zustandekommen des Irrtums läßt sich jedoch einiges lernen.

Um die Bahn eines Körpers der Masse m im Schwerefeld etwa der Erde zu beschreiben, benötigen wir die Bewegungsgleichung und das Gravitationsgesetz in vereinfachter (eindimensionaler) Form:



Bewegungsgleichung

m·d2s/dt2 = K




Gravitationsgesetz

KG = (G M m)/r2




mit der Gravitationskonstanten G, der Erdmasse M und der Entfernung r zwischen Erdmittelpunkt (!) und Körperschwerpunkt. Setzen wird nun die spezielle Kraft KG (Gravitation) in die allgemeine Bewegungsgleichung ein, so erhalten wir




m·d2s/dt2 = (G M m)/r2(t)




Hier können wir zunächst einmal die Masse m des fallenden Körpers herauskürzen; die Gravitationsbeschleunigung ist dann offenbar unabhängig von der Masse dieses Körpers. Außerdem können wir entsprechend Fig. 1 den Abstand r(t) der beiden Massenschwerpunkte ersetzen durch den Erdradius R und die jeweilige Fallhöhe h(t) über der Erdoberfläche, r(t) = R + h(t), so dass gilt




d2s/dt2 = ( G·M )/( R + h(t) )2




Klammern wir im Nenner R aus, so erhalten wir




d2s/dt2 = [( G·M )/( R2 )] · [ 1 / ( 1 + h(t)/R )2 ].




Nun ist zwar der Quotient ( G·M )/( R2 ) eine Konstante und bei der Erde, wie man leicht ermittelt, gerade die „Erdbeschleunigung“ g = 9,8 m s-2, so dass wir erhalten




d2s/dt2 = g· [ 1 / ( 1 + h(t)/R )2 ].

(4)





                                     Fig. 1:  Konstante und variable Größen beim freien Fall


Der zweite Faktor ist jedoch offenbar nicht konstant, sondern von der Fallhöhe h(t) und damit von der Zeit abhängig. Somit ist auch die Beschleunigung, die ein frei fallender Körper erfährt, keineswegs immer und überall die gleiche; sie ist vielmehr - und wie könnte es angesichts des Gravitationsgesetzes auch anders sein? - desto größer, je näher der Körper der Erde kommt. Aus der Newtonschen Mechanik folgt also nicht die Konstanz der Erdbeschleunigung, auch nicht das Galileische Fallgesetz d2s/dt2 = g und deshalb auch nicht die Galilei-Parabel.

Natürlich kann man nun feststellen, dass bei einem Erdradius von R = 6380 km der Quotient h(t)/R im Nenner von Gl. (4) im allgemeinen klein ist. Auch ändert sich die Fallhöhe h(t) bei Laborversuchen nur um einige Meter, die Fallbeschleunigung d2s/dt2 also nur in der Größenordnung 10-6. Ganz anders sieht die Sache jedoch aus, wenn es sich etwa um einen nach einer Kollision senkrecht abstürzenden Satelliten handelt. Hier liegen der Abstand von der Erdoberfläche und damit die Fallhöhe h(t) durchaus in der Größenordnung des Erdradius, und eine Vernachlässigung des zweiten Faktors in Gl. (4) würde völlig falsche Ergebnisse liefern, Beschleunigungen nämlich, die um eine Größenordnung zu groß wären.

Will man deshalb den zweiten Faktor in Gl. (4) nicht vernachlässigen, so ersetzt man auf der linken Seite
d2s/dt2 durch - d2h/dt2 und erhält mit




- d2h/dt2 = g· [ 1 / ( 1 + h(t)/R )2 ]




eine Differentialgleichung 2. Ordnung für die Fallhöhe h(t). Nach Multiplikation mit 2·dh/dt erhält man als erstes Integral im wesentlichen den Energiesatz und bei geeigneter Wahl der Anfangsgeschwindigkeit dh/dt(t = 0) = 0 die Gleichung




(dh/dt)2 = [(2g)/(1 + h0/R)] · [(h0 – h(t))/(1 + h(t)/R]

(5)



Diese Gleichung löst man durch Trennung der Variablen und bekommt mit der Anfangsbedingung h(t = 0) = h0 eine zwar explizite, aber eben doch recht unübersichtliche Lösung:




t(h) = Ö[(R + h0)/(2gR2)] · [(R + h)·(h0 – h) ] + (R + h0) arc tgÖ[(h0 – h)/(R + h)] } .

(6)



Von einem einfachen Fallgesetz wie bei Galilei kann hier jedenfalls nicht mehr die Rede sein. Übrigens ändert daran auch der Übergang zu Polarkoordinaten nichts; denn die Variable (R + h) ist ja nichts anderes als der Radiusvektor r, und die Gleichung wird auch in r nicht einfacher als in h.

Für unsere Überlegungen entscheidend ist die Einsicht, dass Galileis Fallgesetze nicht aus Newtons Mechanik folgen, sondern ihr unter allen physikalisch realisier­baren Bedingungen widersprechen. Sieht man also Newtons Theorie als richtig an, so müssen die üblichen Fallgesetze falsch sein. Benützt man diese Gesetze trotzdem, so macht man einen Fehler. Es mag sein, dass der Fehler klein ist. (Beliebig klein wird er aller­dings nicht.) Es mag sein, dass der Fehler unter der an­gestrebten oder der erreichbaren Meßungenauigkeit liegt und sich darum nicht auswirkt. Es mag sein, dass andere Effekte wie die Luftreibung bei tatsächlich durchgeführten Experimenten zu noch größeren Feh­lern führen. Es mag sein, dass man aus Zeitmangel oder aus Verständlichkeitsgründen den Fehler in Kauf zu nehmen gewillt ist. Ein Fehler bleibt es allemal.

Und es ist eine unzulässige Verschleierung dieses Feh­lers, wenn es gelegentlich heißt, Galileis Gesetze wür­den wenigstens im Grenzfalle geringer Anfangshöhe und kurzer Fallwege aus Newtons Gesetzen folgen. Denn wirklich folgen würden sie ja nur, wenn der Summand h(t)/R gegenüber der Eins in Gl. (4) wirklich verschwände, und das wäre nur dann der Fall, wenn h(t) selbst Null wäre, womit aber auch dh/dt verschwände. Dann gäbe es ja überhaupt keine Fallbewegung.

Wir können also zwar angeben, unter welcher Bedin­gung Galilei Recht hätte; diese Bedingung ist jedoch nie erfüllt und, wie wir gesehen haben, auch gar nicht erfüllbar. Sie ist vielmehr eine irreale, eine kontrafak­tische Bedingung mit dem Tenor: Wäre die Welt anders, als sie ist, dann könnte auch Galilei Recht haben. Die Welt ist aber so, wie sie ist, und kein bisschen an­ders. Galileis Gesetze können deshalb nur unter irrea­len Bedingungen als Grenzfall der Newtonschen Me­chanik angesehen werden.


Wann darf man Falsches lehren?

Wir wissen (spätestens jetzt), dass Galileis Fallgesetze Fehler enthalten. Trotzdem lehren wir sie, und wir werden sie natürlich auch in Zukunft lehren. Dürfen wir das eigentlich? Darf man Falsches lehren?

Vielleicht ist die Antwort nun nicht mehr ein so schnelles und überzeugtes Nein wie anfangs. Andernfalls müssten wir nämlich unsere Lehrpläne und unsere Lehrmethoden gewaltig umstellen. Wir dürften zum Beispiel Galileis Fallgesetze nicht mehr lehren. Auch die Keplerschen Gesetze dürften wir Schülern und Studenten nicht mehr beibringen. Spätestens seit Einstein wissen wir, dass sogar Newtons Mechanik und seine Gravitationstheorie „nicht ganz richtig“ und das heißt letztlich falsch sind; somit dürften wir nicht einmal klassische Mechanik unterrichten. Und Einstein selbst hat betont, dass seine allgemeine Relativitätstheorie noch nicht endgültig sein könne, weil sie noch keine Quantenphänomene einschließt, dass also auch diese Theorie die Natur noch nicht ganz korrekt beschreibt, Fehler enthält, falsch ist. Wenn wir nichts Falsches lehren dürften, bliebe dann überhaupt noch etwas Lehrbares übrig?

Sicher wollen wir nicht die gesamte Physik aufgeben. Wir werden nach wie vor Einsteins oder jedenfalls Newtons, Keplers und sogar Galileis Gesetze lehren. Und wir werden auch nicht vor jeder Unterrichtsein­heit, vor jeder Vorlesung oder gar vor jedem Satz ver­künden: „Liebe Studenten, passt schön auf; jetzt brin­ge ich euch etwas Falsches bei!“. Das heißt, dass wir in der Regel den Lehrstoff auch als wahr vermitteln.

Auf der anderen Seite werden wir aber auch nicht alles erlauben wollen. Die Aristotelische Bewegungslehre, die Impetustheorie des Mittelalters, die Hohlweltlehre, Stahls Phlogistontheorie oder ein geozentrisches Weltbild lehren wir nun doch nicht, wollen wir nicht lehren und sicher auch sonst niemandem als Lehrstoff zugestehen. (Jedenfalls verlangen wir, dass auf die Unangemessenheit und erwiesene Falschheit dieser Theorien hingewiesen wird.) Wenn wir aber auch Falsches leh­ren und doch nicht alles Falsche als Lehrstoff zulassen wollen, wenn wir also nicht alle falschen Theorien als gleichberechtigt ansehen, dann muss es offenbar Unterschiede geben, Bedingungen, unter denen Falsches gelehrt werden darf, Kriterien, die Falsches als gleichwohl lehrbar auszeichnen. Wann also darf man Falsches lehren?

Die Newtonsche Mechanik erlaubt es nicht nur, die „richtigen“ Fallgesetze (4) bis (6) abzuleiten, sie mit Galileis Gesetzen (1) bis (3) zu vergleichen und diese zu korrigieren. Sie erlaubt es auch, den Fehler zu bestimmen, den man macht, wenn man diese Gesetze zugrunde legt. So kann man beispielsweise Gl. (4) nach kleinen Fallhöhen h(t)/R entwickeln und erhält




d2s/dt2 = g{1 – (2h(t))/(R) + ......}              für h/R < 1




und, indem man d2s/dt2 = g als erste Näherung betrachtet und für h(t) die daraus gewinnbare Näherung




h(t) = h0 - s(t) » h0 - ½ g t2



einsetzt,




d2s/dt2 = g{1 - (2/R)·(h0 - ½ g t2) +.....}.

(7)



Hier ist der erste Korrekturterm mit h0 wieder größer als der zweite, zeitabhängige, so dass man als größten relativen Fehler 2 h0/R ansetzen kann. Je nach der Höhe h0 über dem Meeresspiegel und je nach Fallzeit t und somit auch Faliweg ½ g t2 wird der Fehler verschieden groß ausfallen. Auf einem Berg von 3000 m Höhe zum Beispiel beträgt der Fehler immerhin rund 1 ‰, was man nicht in jedem Falle wird vernach­lässigen wollen. Bei sehr großen Höhen versagt dann nicht nur die Reihenentwicklung, sondern, wie bereits bemerkt, die gesamte Galileische Formel. Aus Gl. (7) kann man auch durch ein- bzw. zweimalige Integration die Fehler in der Geschwindigkeit und im Fallweg leicht bestimmen:




ds/dt = g t{1 – (2/R)·(h0 – gt2/6) +.....},

(8)





s(t) = ½ g t2{1 – (2/R)·(h0 – gt2/12) +.....}.

(9)



Durch Vergleich von (7) bis (9) mit (1) bis (3) wissen wir also, welche Fehler wir bei Anwendung der Galilei-Gesetze (höchstens) machen. So können wir nun auch entscheiden, ob wir diesen Fehler in Kauf nehmen können oder wollen. Sind wir zu einer schärferen Messung sowieso nicht in der Lage oder an einer genaueren Aussage gar nicht interessiert, dann können wir auch guten Gewissens von den einfachen Formeln Galileis Gebrauch machen. Wir wissen dabei sehr wohl, dass wir einen Fehler machen, glauben aber, diesen Fehler angesichts unserer Möglichkeiten oder Interessen verantworten zu können.

Ziehen wir aus diesem Beispiel die Lehren, so können wir die gestellten Fragen endlich beantworten:

Ja, man darf Falsches lehren, allerdings nur, wenn die folgenden Bedin­gungen erfüllt sind:

- Man sollte wissen, welchen Fehler man dabei macht. Dieses Wissen kann aus zwei unterschiedlichen Quellen stammen. Entweder hat man eine bessere Theorie (deren Aussagen in diesem Zusammenhang als wahr unterstellt werden); dann kann man den maximalen Fehler ermitteln. Oder man hat oder benützt zwar keine bessere Theorie, kennt jedoch die möglichen Fehler wenigstens empirisch. In beiden Fällen muss man offenbar mehr wissen, als man lehrt - eine ein­fache Erklärung dafür, warum der Lehrende einen gewissen Informationsvorsprung braucht.

- Man muss den Fehler im Rahmen der übrigen Unter­richtsziele verantworten können. Die Verwendung der falschen Theorie oder eines falschen Gesetzes sollte also wenigstens in anderer Hinsicht minde­stens gleichwertige Vorteile bringen. Vorteile dieser Art sind größere Einfachheit, Anschaulichkeit, Plausibilität, Merkbarkeit, Anwendbarkeit. Auf die Schwierigkeit, solche Vorteile zu messen oder auch nur vergleichend gegeneinander auszuspielen, kann hier nur hingewiesen werden. Manchmal wäre dann allerdings ein Hinweis, dass man eine Theorie gar nicht um ihrer Wahrheit, sondern um ihrer Brauchbarkeit willen vorstellt, durchaus angebracht.

- Man darf nie behaupten oder auch nur suggerie­ren - etwa durch den Aufbau des Unterrichts oder durch die Reihenfolge der Argumentations­schritte -, die besprochenen Hypothesen und Theorien seien aus der Erfahrung, also aus Daten, Beobach­tungen, Messungen, Experimenten gewonnen oder gar abgeleitet. Ein solches Verfahren zur Gewin­nung von Naturgesetzen existiert einfach nicht, kein deduktives und kein induktives. Natürlich lassen wir uns von Erfahrungen in der Vergangenheit zu Vermutungen über und zu Erwartungen an die Zu­kunft anregen, von einzelnen Beobachtungen zur Formulierung allgemeiner Gesetze, von endlich vie­len Meßergebnissen zu Allaussagen mit potentiell unendlichem Anwendungsbereich. Dieser Über­gang erfolgt jedoch weder deduktiv im Sinne zwin­gender wahrheitsbewahrender Schlüsse noch induk­tiv - falls man “induktiv” in einigermaßen plausibler Symmetrie zu “deduktiv” definiert, etwa im Sinne wahrheitsbewahrender oder wenigstens wahr­schein­lich­keitsliefernder Erweiterungsschlüsse. - Es wäre ja auch höchst merkwürdig, wenn man von Tatsachen, die niemand bezweifelt (auch nicht ein Newtonianer), und mit Hilfe allgemein anerkannter und zuverlässiger Verfahren auf Gesetze schließen könnte, die sich dann später doch als falsch erweisen. Die schöne Hoffnung, dass ein solches Schluss- oder Rechtfertigungsverfahren existiere und auffindbar, vielleicht sogar schon gefunden sei, und das darauf beruhende blinde Vertrauen in die Zuverlässigkeit wissenschaftlichen Vorgehens und wissenschaftli­cher Ergebnisse wird auf jeden Fall irgendwann ent­täuscht und führt dann um so leichter zu völliger Re­signation oder zu übertriebenem Misstrauen. Des­halb ist es auf lange Sicht viel fruchtbarer, solch gro­ße Hoffnungen gar nicht erst zu wecken.

- Man sollte (deshalb) wenigstens gelegentlich beto­nen, dass die Fallgesetze, die klassische Mechanik, die moderne Wissenschaft, dass all unser Wissen vorläufig, unvollständig, fehlbar, hypothetisch ist, dass die vorgetragenen Hypothesen und Theorien noch verbessert werden können, dass auch die beste verfügbare Theorie vermutlich noch Fehler enthält und vielleicht eines Tages als verbesserungsbedürftig und hoffentlich auch als verbes­serungsfähig erkannt wird.

- Und selbst dabei sollte man nicht stehenbleiben. Unerlässlich ist schließlich ein Hinweis darauf, dass Wissenschaft bei aller Vorläufigkeit doch nicht wertlos ist, dass Theorien zwar nicht bewiesen, wohl aber nach anderen Kriterien beurteilt und be­wertet und miteinander verglichen werden können, dass die Naturwissenschaften einen hohen Grad an Zuverlässigkeit (nicht an Sicherheit!) erreicht ha­ben und dass die Verwendung wissenschaftlicher Theorien rational ist, auch wenn absolutes Vertrau­en irrational wäre.

Die Bedingungen, unter denen Falsches gelehrt werden darf, lauten also in aller Kürze: Man muss den Fehler kennen und verantworten können; man darf nicht sug­gerieren, die wissenschaftlichen Hypothesen seien “in­duktiv” gewonnen oder gar deduktiv bewiesen; man sollte gelegentlich die Vorläufigkeit des erreichten Kenntnisstandes betonen und dabei auch auf die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Theorien verweisen.


Falsche und weniger falsche Theorien

Die Fallgesetze sind ein drastisches Beispiel für Unterrichtsstoff, der Genaunehmen Fehler enthält. Die Problematik ist jedoch nicht auf diese Gesetze, auch nicht auf die klassische Mechanik, auf die Physik oder auf die Naturwissenschaften beschränkt. Fast überall lehren wir Theorien, die einem eigentlich überwundenen Forschungsstand entsprechen.
Tabelle 1 stellt für die Physik solche Beispiele zusammen. Für andere Wissenschaften lassen sich ähnliche Beispiele angeben. Dass so viele ehrwürdige Theorien falsch sein sollen, wird vielen - Forschern wie Lehrern - nicht schmecken. Das ist verständlich, aber natürlich kein Argument. Man könnte diese „anstößige“ Ausdrucksweise tatsächlich auch umgehen, indem man die einschlägigen Behauptungen mit einem „fast“ oder „ungefähr“ versieht: „Die Fallbe­schleunigung ist fast konstant.“ „Ein schräg geworfener Körper beschreibt ungefähr eine Parabel.“ „Alle Planeten bewegen sich annähernd auf elliptischen Bahnen.“ usw.

Aber abgesehen davon, dass so ja eigentlich niemand redet, können auch diese Formulierungen falsch wer­den, dann nämlich, wenn die Abweichungen über jede tolerierbare Fehlergrenze hinausgehen etwa beim Satelliten­absturz. Deshalb müsste der jeweilige Fehler oder die jeweilige Toleranz­grenze grundsätzlich mit angegeben werden. Eine solche Angabe macht die fraglichen Aussagen dann zwar wahr, aber umständ­lich, und damit eignen sie sich wieder nicht für jeden Unterrichtszweck. Und wie groß der Fehler (höch­stens) ist, sagt einem ja gerade nicht die zwar einfachere, aber eben falsche Theorie, sondern erst die genauere und kompliziertere. Die vorgeschlagenen Formulie­rungen mit Fehlerangaben wären also ihrerseits nur über die besseren Theorien zu gewinnen und zu be­gründen.

Abgesehen von rein pragmatischen, insbesondere von Erfolgsargumenten kann also nur die überlegene Theorie den Gebrauch einer falschen, aber einfachen Theorie rechtfertigen. In umgekehrter Richtung gilt dies dagegen nicht: Galileis Theorie kann nicht erklären, warum Newtons Theorie so erfolgreich war. Hier besteht also eine interessante und folgenreiche Asym­metrie. In solchen Fällen sagen wir auch, die überlegene Theorie sei “tiefer” [6]. Ganz allgemein nennen wir eine Theorie tiefer als eine andere genau dann, wenn sie jener anderen widerspricht, diese korrigiert und zugleich ihre bisherigen Erfolge und Mißerfolge erklärt.

Natürlich gibt es noch weitere Aspekte, in denen eine Theorie einer anderen überlegen sein kann, etwa in Breite (Umfang, scope), empirischem Gehalt, Prüf­barkeit oder Erklärungswert. Und solche Kriterien er­lauben es dann schließlich auch, die Rede vom wissen­schaftlichen Fortschritt zu präzisieren (ohne ihn damit auch schon garantieren zu können!).

Naturerscheinung

einfache(re) Theorie

bessere (tiefere) Theorie

Kontrafaktische (!) Bedingung


freier Fall

Galilei:

Newton:




d²s/dt² = g = konst.

d²s(t)/dt² = g(1 +h(t)/R) -2

h(t)/R = 0 (vgl. Gl. (4))







schräger Wurf

Galilei: Parabel

“Kepler (K1)”: Ellipse

homogenes Schwerefeld (Erde flach, unendlich ausgedehnt und doch von endlicher Masse!)







Kepler-Ellipse

Kepler (K1):
Sonne ruht im Brennpunkt

Newton: Sonne und Planet bewegen sich beide um den gemeinsamen Schwer­punkt. (Nur beim Jupiter liegt dieser außerhalb der Sonne). Einziger Nachweis für die Existenz ferner Planetensysteme.

Sonne fest (d.h. Sonnenmasse unendlich oder Planetenmasse null) und keine Störungen durch andere Himmelskörper. Oder mehrere gleichmäßig verteilte Planeten gleicher Masse auf kongruenten Bahnen [2].







große Halbachse a zu Umlaufzeit T

Kepler (K3): a³/T² = konst., für alle Planeten gleich.

Newton [3]:
a³/T² =
(GMs/4p²) (1 + mp/Ms)
Fehler beim Jupiter
immerhin 1 $;
er ist an Planetentabellen erkennbar.

Sonnenmasse Ms unendlich oder alle Planetenmassen mp gleich [4]. Letzteres physikalisch möglich, aber nach Theorien zur Planetenentstehung nie realisiert.







Kinematik

Newton: klassische Mechanik

Einstein: spezielle Relativitätstheorie

Bahngeschwindigkeit / Lichtgeschwindigkeit =
= v / c = 0







Beschleunigungen

spezielle Relativitätstheorie

allgemeine Relativitätstheorie

Riemann-Tensor Rmnst = 0







Planetenbewegung

Newton:
Kepler-Ellipsen mit Störungen

Einstein [5]: zusätzliche Periheldrehung Merkur 43", Erde 3,8" pro Jahrhundert

v² / c² = 0 und
(2MG) / (c²r) = 0







Lichtausbreitung

geometrische Optik: geradlinig

Wellenoptik:
Beugung, Interferenz

Wellenlänge / Abmessungen = 0







gebundene Zustände

klassische Mechanik: jedes Niveau

Quantenmechanik:
diskrete Energieniveaus

h = 0 bzw.
"große Quantenzahlen"







Gase

klassische Thermodynamik

statistische Mechanik
("Thermostatistik")

1 / Ö(Teilchenzahl N) = 0



Tabelle 1: Falsche und weniger falsche Theorien in der Physik. Die letzte Spalte nennt die idealisierten, kontrafaktischen und meist unerfüllbaren Bedingungen, unter denen beide Theorien zu denselben Ergebnissen kommen (kämen!)


Die Beziehungen zwischen falschen und weniger fal­schen Theorien lassen sich noch weiter untersuchen und verfeinern. So könnte man fragen, ob nicht etwa die Galilei-Parabel gegenüber der Kepler-Ellipse einen größeren Fehler darstellt als die Kepler-Ellipse gegenüber Newton, weil bei Newton die Kepler-Ellipse nur verschoben, nicht jedoch aufgegeben werden muss. Solche Vergleiche sind erwünscht, weil wir ja Kriterien suchen, nach denen wir zwar die Fallgesetze, nicht je­doch die mittelalterliche Impetustheorie als zulässigen Lehrstoff auszeichnen können. Sie sind auch durchaus denkbar, erfordern jedoch offenbar weitere analyti­sche (insbesondere topologische und metrische) Hilfs­mittel, welche die “Abstände” zwischen Theorien zu bestimmen und zu vergleichen gestatten. Und es gibt dazu auch schon Vorschläge, die wir jedoch hier nicht mehr vorstellen können. Nur eine letzte Frage wollen wir noch diskutieren.


Darf man falsche Theorien benützen?

Dies ist offenbar eine ganz andere Frage als die ursprünglich gestellte. Hier geht es nicht um die Wahrheit, sondern um die Brauchbarkeit einer Theorie. Dabei kommen also hauptsächlich praktische Interessen ins Spiel, und deshalb werden hier auch pragmatische Kriterien eher greifen. Trotzdem begeben wir uns auch in dieser Frage nicht auf den Standpunkt des Pragmatisten. Er hatte ja ,wahr' als ,brauchbar' und somit ,falsch' als ,unbrauchbar' definiert. Warum sollte man eine unbrauchbare Theorie benützen? Unsere Frage liefe also darauf hinaus, ob eine unbrauchbare Theorie brauchbar ist, ein augenfälliger Widerspruch, der die Frage in den Augen des Pragmatisten zu Recht disqualifiziert.

Für den Realisten dagegen sind Wahrheit und Brauchbarkeit unabhängig voneinander definiert und deshalb auch unabhängig voneinander abfragbar: Eine wahre Theorie könnte unbrauchbar (zum Beispiel zu kompliziert), eine falsche dagegen durchaus nützlich sein (wofür wir ja gerade besonders viele Beispiele kennengelernt haben). Grundsätzlich kommt es auf die gewünschte bzw. auf die erreichbare Genauigkeit an. Ein Beispiel wird das wieder am besten verdeutlichen.

Beim Brückenbau benötigt man statische Kenntnisse, insbesondere über die wirkenden Kräfte und deshalb natürlich auch über den Einfluss der Schwerkraft. Nun wissen wir, dass Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, die ja eine Gravitationstheorie ist, die Erscheinungen der Schwere besser beschreibt als Newtons Gravitationstheorie. Muss man also beim Brückenbau - etwa aus Sicherheitsgründen - Einsteins Gravitationstheorie benützen? Sicher nicht, und zwar deshalb nicht, weil die eingeplanten Sicherheiten die Differenzen zwischen Newton und Einstein und damit die bei Verwendung der Newtonschen Theorie allenfalls möglichen Fehler bei weitem übersteigen. Auch wenn die Brücke später einstürzt, liegt es gewiss nicht daran, dass man die falsche Gravitations­theorie benützt hat. Eben dies kann man aus der überlegenen Einsteinschen Theorie lernen.

Die tiefere Theorie kann also nicht nur die Erfolge und Mißerfolge einer anderen, weniger tiefen erklären, sondern auch deren Gebrauch in Fällen, in denen es auf letzterreichbare Genauigkeit nicht ankommt, rechtfertigen. Und die Tatsache, dass die Verwendung einfacher, aber falscher Theorien gerechtfertigt sein kann, ist natürlich ein weiteres, und zwar durchaus seriöses Motiv, solche Theorien auch zu vermitteln.

Bleibt also alles beim alten? Liefern unsere wissen­schaftstheoretischen Überlegungen nichts weiter als eine Rechtfertigung dessen, was wir schon immer tun? Nicht ganz. Wir haben zwar erklärt, warum wir Falsches lehren, und gezeigt, warum wir das auch dürfen. Wir haben aber auch die Bedingungen angege­ben, unter denen allein Falsches gelehrt werden darf. Nimmt man diese Bedingungen ernst, so könnten, nein, so sollten sie doch dazu anregen, den Unterricht in mancher Hinsicht bewusster zu gestalten und damit ein besseres - nämlich richtigeres und hilfreicheres - Bild von Wissenschaft zu vermitteln.



1. Die Lehre, dass die Wahrheit offenbar sei, kritisiert sehr treffend Popper, K. R.: On the sources of knowledge and ignorance (1960), in: Conjectures and Refutations, S. 3. New York: Harper & Row 1962; deutsch in: Mannheimer Forum 1975/76, S. 8

2. Diesen interessanten Fall, in dem das erste Keplersche Gesetz auch nach Newton richtig ist bzw. wäre, behandelt Scheibe, E.: Die Erklärung der Keplerschen Gesetze durch Newtons Gravita­tionsgesetz, in: Scheibe, E., Süßmann, G. (Hrsg.): Einheit und Vielheit, S. 107. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973

3. Vgl. z.B. Goldstein. H.: Klassische Mechanik. S. 88. Frankfurt: Akade­mische Verlagsgesellschaft 1963

4. Die Falschheit der Galilei-Parabel und des dritten Keplerschen Gesetzes betont auch Popper, K. R.: Die Zielsetzung der Erfah­rungs­wissenschaft (1957), in: Objektive Erkenntnis, S. 213. Hamburg: Hoffmann und Campe 1973 (vgl. auch S. 386; 41984, S. 198, 371)

5. Vgl. Landau, L., Lifschitz, E. M.: Klassische Feldtheorie, S. 326. (Lehrbuch der Theoretischen Physik, Band II). Berlin: Aka­demie-Verlag 1964

6. Diese Präzisierung des intuitiven Verständnisses von einer “tiefe­ren” Theorie gibt auch Popper [4]


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