Professor Sir Karl R. Popper:



„Die Unmenschlichkeit der Unfehlbarkeit“

Auszug aus einer Rede


Quelle:

Niederschrift eines Tonband-Mitschnitts einer Fernsehsendung des Zweiten Öster­reichischen Fernsehens (ORF 2) am Mittwoch, den 28. Juli 1982, um 23.05 Uhr.




Am Schluß seiner Rede führte Professor Popper aus:

„Der alte Imperativ für den Intellektuellen ist: Sei eine Autorität. Wisse alles in Deinem Gebiet. Wenn Du einmal als Autorität anerkannt bist, dann wird Deine Autorität auch von Deinen Kollegen beschützt werden und Du mußt natürlich Deinerseits die Autorität Deiner Kol­legen beschützen. Ich brauche kaum zu betonen, daß diese alte, profes­sionelle Ethik immer schon intellektuell unredlich war. Sie führt zum Vertuschen der Fehler um der Autorität willen, insbesondere auch in der Medizin. Ich schlage deshalb eine neue Berufsethik vor, und nicht nur für Naturwissenschaftler. Ich schlage vor, sie auf fol­gende zwölf Sätze zu gründen, mit denen ich schließe:

1. Unser objektives Vermutungswissen geht immer weiter über das hinaus, was ein Mensch wissen kann. Es gibt daher keine Autoritäten. Das gilt auch innerhalb von Spezialfächern.

2. Es ist unmöglich, alle Fehler zu vermeiden oder auch nur alle an sich vermeidbaren Fehler. Fehler werden dauernd von allen Wissen­schaftlern gemacht. Die alte Idee, daß man Fehler vermeiden kann und daher als Autorität verpflichtet ist, sie zu vermeiden, muß revi­diert werden. Sie ist selbst fehlerhaft

3. Natürlich bleibt es unsere Aufgabe, Fehler nach Möglichkeit zu vermeiden. Aber gerade, um sie zu vermeiden, müssen wir uns vor allem klar darüber werden, wie schwer es ist, sie zu vermeiden und daß es niemand völlig gelingt. Es gelingt auch nicht den schöpferischen Wis­senschaftlern, die von ihrer Intuition geleitet werden. Die Intuition kann auch irreführen.

4. Auch in den am besten bewährten unter unseren Theorien können Fehler verborgen sein. Und es ist die spezifische Aufgabe des Wis­senschaftlers, nach solchen Fehlern zu suchen. Die Feststellung, daß eine gut bewährte Theorie oder ein viel verwendetes praktisches Ver­fahren fehlerhaft ist, kann eine wichtige Entdeckung sein.

5. Wir müssen deshalb unsere Einstellung zu unseren Fehlern än­dern. Es ist hier, wo unsere praktische ethische Reform beginnen muß.

6. Denn die alte berufsethische Einstellung führt dazu, unsere Fehler zu vertuschen und zu verheimlichen und so schnell wie möglich zu vergessen.

7. Das neue Grundgesetz ist, daß wir - um zu lernen, Fehler möglichst zu vermeiden - gerade von unseren Fehlern lernen müssen. Fehler zu vertuschen ist daher die größte intellektuelle Sünde.

8. Wir müssen deshalb dauernd nach unseren Fehlern Ausschau hal­ten. Wenn wir sie finden, müssen wir sie uns einprägen, sie nach allen Seiten analysieren, um ihnen auf den Grund zu gehen. Die selbstkritische Haltung und die Aufrichtigkeit werden damit zur Pflicht.

9. Da wir von unseren Fehlern lernen müssen, so müssen wir es auch lernen, es anzunehmen, ja, dankbar anzunehmen, wenn andere uns auf unsere Fehler aufmerksam machen. Wenn wir andere auf ihre Feh­ler aufmerksam machen, so sollen wir uns immer daran erinnern, daß wir selbst ähnliche Fehler gemacht haben wie sie. Und wir sollen uns daran erinnern, daß die größten Wissenschaftler Fehler gemacht haben. Ich will sicher nicht sagen, daß unsere Fehler gewöhnlich entschuldbar sind. Wir dürfen in unserer Wachsamkeit nicht nachlas­sen. Aber es ist menschlich unvermeidbar, immer wieder Fehler zu machen.

10. Wir müssen uns klar werden, daß wir andere Menschen zur Ent­deckung und Korrektur von Fehlern brauchen und sie uns. Insbesonde­re auch Menschen, die mit anderen Ideen in einer anderen Atmosphäre aufgewachsen sind. Auch das führt zu Toleranz.

11. Wir müssen lernen, daß Selbstkritik die beste Kritik ist, daß aber die Kritik durch andere eine Notwendigkeit ist. Sie ist fast ebenso gut wie Selbstkritik.

12. Rationale Kritik muß immer spezifisch sein. Sie muß spezi­fische Gründe angeben, warum spezifische Aussagen, spezifische Hypo­thesen falsch zu sein scheinen oder spezifische Argumente ungültig. Sie muß von der Idee geleitet sein, der objektiven Wahrheit näher zu kommen. Sie muß in diesem Sinne unpersönlich sein.



Ich bitte Sie, meine Formulierungen als Vorschläge zu betrachten. Sie sollen zeigen, daß man nicht nur in den Naturwissenschaften son­dern auch im ethischen Gebiet diskutierbare und verbesserbare Vor­schläge machen kann.“




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